Was ist Yiquan?

Viele körperlichen und geistigen Übungssysteme verschiedenster Kulturen erheben auch heute noch den selben Anspruch. Die Entstehung der fernöstlichen Gesundheits- und Kampfkünste verliert sich jedoch im Dunkel vergangener Jahrtausende und dadurch auch deren Kern. Viele Übungsformen zur Kultivierung der Inneren Kraft, der Vitalität und des menschlichen Geistes haben sich, ausgehend von ihrer gemeinsamen Wurzel, in unzählige Äste verzweigt. Viele der alten Geheimnisse wurden über die ehrenwerten Ahnenlinien in unsere heutige Zeit übertragen, andere wiederum gingen in zerbrochenen Ahnenlinien verloren. Die Perlen dieser Künste sind heute meist in vielen Systemen verborgen und müssen durch Entwicklung eines tiefen Verständnisses der facettenreichen Systeme und der zugrundeliegenden Grundprinzipien mühsam zusammengetragen werden. Durch Verluste bei der Übertragung von einer Generation auf die nachfolgende und eines geminderten Anspruches sind viele der fernöstlichen Künste zu reinen Tanzformen degeneriert und das nicht nur im Westen, meist mit dem Fokus auf äußerlich anmutig erscheinende Bewegungsabläufe und Routinen, geschmückt mit mystischen Konzepten und Begriffen.
Wang Xiangzhai (1885-1963), der Begründer des Yiquan, war seinerzeit ein berühmter Meister der Kampfkunst, des Qigong und der chinesischen Heilkunst. Seine Kampfkunstfähigkeiten wurden legendär. Er widmete sein Leben der Suche nach der Essenz der inneren Kampfkünste (Neijiaquan) und der Systematisierung ihrer Prinzipien. Wang erkannte, dass sogar in den Kampfkünsten zu großer Wert auf körperliche Bewegungsabfolgen gelegt wurde und die inneren Prinzipien des Aufbaus der inneren Kraft kaum noch Beachtung fanden. Er war der tiefen Überzeugung, dass alles Wissen einem jeden Menschen zugänglich sein müsse und es keine Geheimnisse geben sollte, die nur wenigen „Auserwählten“ offenbart werden. Er enthüllte aus dieser Überzeugung heraus die Kernprinzipien und speziellen Übungsformen der Inneren Kampf- und der Gesundheitskünste, welche die Meister seit Jahrtausenden in intimen Ahnenlinien nur an auserwählte Meisterschüler weitergaben und machte sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich.

Meister Wang betonte stets, dass die rechte Kampfkunst zurück an die Wurzeln der Kultivierung dieses menschlichen Lebenspotenzials gehen sollte. In seinem inneren Aspekt vereint Yiquan in sich die Essenz der drei inneren chinesischen Kampfkünste Taijiquan, Xingyiquan und Baguazhuang: die Schulung des Geistes und den Aufbau der inneren Kraft. Vom Xing Yi Quan übernahm Meister Wang im Wesentlichen die Mechanismen der inneren Kraft, im äußeren Aspekt die Körperhaltung und Struktur. Vom Taijiquan entlehnte er u.a. die Fähigkeiten des Attackierens, des am Gegner „Klebens“, die Fähigkeit Kraft aufzunehmen und diese zu transformieren, die „hörenden“ Hände und die Fähigkeit, sich den Bewegungen des Gegners harmonisch anpassen zu können. Aus dem Baguazhuang stammen beispielsweise die fließenden Schritttechniken, welche die Wahrnehmungsfähigkeit der unteren Gliedmaßen und die Dynamik der Beinarbeit entwickeln. Die meditativen Aspekte des Chan (Zen), die Übungen zur Kultivierung des Chi und des Aufbaus der inneren Kraft bilden den Kern des Yiquan. Dadurch wurden uralte Trainingsprinzipien wieder in einen systematischen Zusammenhang gebracht und können heute jedes andere System, sei es aus dem Bereich der Kampfkunst, der Gesundheitspflege oder einer jeden Sportart, in seiner Effizienz nachhaltig verbessern. Die Essenz der drei inneren Kampfkünste besteht jedoch keinesfalls aus einer Mischung von einzelnen Figuren, Bewegungen oder Prinzipien. Durch sein Studium und Forschen hat Wang vielmehr den Kern der inneren Kampfkunst an sich interpretiert.

Die Übungen des Yiquan sind dabei äußerst einfach und klar. Für den Betrachter ähneln die Übungen sehr stark diversen Formen des Qigong und Taiji, sind jedoch leichter zu erlernen, wie bspw. das Taiji. Aber eben in ihrer Einfachheit und Klarheit liegt ihre enorme Wirkkraft oder wie Meister Wang es formulierte: „Das Gewöhnlichste ist das Ungewöhnlichste“. Im Yiquan spielt die Pflege der körperlichen und geistigen Gesundheit eine übergeordnete Rolle. Ein stabiler Gesundheitszustand ist die Basis für ein erfülltes Wirken in- und außerhalb der Kampfkünste. Die Übungen können im Stehen, Gehen, Sitzen und Liegen ausgeführt werden. Sie lassen sich darüber hinaus sehr leicht in den Alltag integrieren und benötigen keinen speziellen Übungsraum. Der wesentlichste Aspekt im Yiquan-Training ist die Schulung und Kultivierung des Geistes sowie der „inneren Kraft“. Dies entwickelt einen Zustand tiefgehender Ruhe und Entspannung sowie starker Vitalität und ermöglicht es bspw. in der Kampfkunstanwendung, unmittelbar, kraftvoll und spontan zu handeln, ohne dabei auf einstudierte Techniken angewiesen zu sein. Dabei verzichtet Yiquan auf alle überflüssigen, d.h. nicht auf den Aufbau der inneren Kraft gerichteten Übungen. Dadurch unterscheidet es sich fundamental vom gewöhnlichen Muskel- bzw. Krafttraining. Durch die nunmehr fast 80 jährige Praxis hat sich gezeigt, dass das System sowohl eine starke positive Wirkung auf die Gesundheit wie auch auf die Kampfkunstfähigkeiten (Gongfu) ausübt. Aufgrund der außergewöhnlichen Fähigkeiten der Yiquan-Praktizierenden in Bezug auf ihr Gongfu nannten einige besonders euphorische Schüler von Wang Xiangzhai, allerdings gegen seinen Willen, dessen Kunst „Dachengquan“ (Kampfkunst der großen Vollendung). Auch heute noch findet dieser Name häufige Verwendung.
Innerhalb der traditionellen chinesischen Kampfkünste stellt Yiquan eine grundlegende Reform dar. Die Bewegungsökonomie wurde hier auf ihre höchste Stufe gebracht. Der Yiquan-Praktizierende kann sich mit wenigen Bewegungen, jedoch mit Schnelligkeit, Koordination und Geschick gegen eine Vielzahl von Angriffen verteidigen. Yiquan wurde von Meister Wang in jahrelangen Studien der inneren Chinesischen Kampfkünste vor dem Hintergrund moderner physiologischer und biomechanischer Erkenntnisse entwickelt. Obwohl die Bewegungen äußerlich anmutig und eher gemütlich erscheinen, sind sie sehr effizient, einfach zu koordinieren und können blitzschnell, explosionsartig angewendet werden, mit erstaunlicher Präzision und Sicherheit. Für einen Gegner sind sie nahezu unberechenbar. Meisterhafte Yiquan-Bewegungen können einen Gegner mit einer ihm in seinen Wahrnehmungsfähigkeiten unvertrauten Dynamik konfrontieren, so dass er völlig desorientiert wird, sein Zentrum verliert und nicht mehr finden kann. Folglich bleiben alle seine Aktionen unwirksam. Yiquan reiht sich damit unter die schnellsten Kampfsysteme ein.

n der heutigen Zeit werden aus unserem sozialen Umfeld von vielen Seiten Anforderungen an uns gestellt und Rollenbilder definiert, denen wir so weit wie möglich entsprechen möchten, um unsere soziale Eingebundenheit und den daraus resultierenden seelischen Halt nicht zu verlieren. Oft ist die Folge Stress und psychischer (Leistungs-)Druck, Angstgefühle und Depressionen. Beschleunigte Lebensumstände zehren dabei ebenfalls an unseren körperlichen und psychischen Ressourcen. Wie negativ sich stressbedingte Krankheiten und Angstgefühle auf unser Immunsystem und dadurch auf unsere Gesundheit im ganzheitlichen Sinne auswirken, wird in jüngsten wissenschaftlichen Studien bestätigt. Yiquan stellt nur sehr geringe Anforderungen an den Praktizierenden, kennt keinen Leistungsdruck. Dadurch ist es eine Möglichkeit, sich selbst zu „entschleunigen“, seine Wesensmitte wieder zu entdecken und dadurch körperliche und geistige Kraft zu tanken. Ein bewusstes, entspanntes und trotzdem ein auf unsere täglichen Aufgaben fokussiertes Handeln bereichert unser Wirken in vielen Lebenslagen. Stück für Stück befreien wir dadurch unseren grenzenlosen, lebendigen Geist von selbstauferlegten Zwängen, Verhaltensmustern und Selbsteinschränkungen. Plötzlich entwickeln wir eine andere Sicht der Dinge. Dies kann als Kultivierung des menschlichen Lebenspotenzials verstanden werden. Die Übungen helfen uns, vom ständigen Aktionismus in die Stille, vom Denken wieder zum Fühlen und von der Anspannung wieder zurück zur Entspannung zu kommen.
Yiquan ist demnach keine Ansammlung von Boxroutinen, Kampftechniken, Meditationstechniken, fixierten Bewegungsabläufen und Körperstellungen. Es ist auch keine philosophische Denkschule, keine religiöse Stilrichtung, Gemeinschaft oder Organisation, keine medizinische Therapieform, weder im körperlichen noch im psychischen Bereich. Es ist ein Prozess des Wiedererlangens von uns allen angeborenen Fähigkeiten. Diese haben wir durch die Urbanisierung unserer Gesellschaft und der minimalisierten Bewegungsmuster unseres Alltags verlernt. In der bewegungsarmen Umgebung, in der sich die meisten zivilisierten Gesellschaften täglich bewegen, werden die benötigten Stimuli nicht mehr angetroffen. Es entstehen Stimulationslücken, die wir künstlich versuchen aufzufüllen. Die meisten Freizeitsportarten sind jedoch auch hier viel zu einseitig. Wird Bewegungsmangel oder gar Fehlhaltungen und falsch erlernte Bewegungsmuster zum Dauerzustand, verlernt der menschliche Körper mit der Zeit, sich effizient zu bewegen. Die Trainingsmethoden des Yiquan sind gezielt auf die Funktionen des Körpers ausgerichtet, die in unserem Alltag zu wenig oder gar fehlbelastet werden. Man kann sie deshalb als Lernprogramme der gesamten neuro-muskulären Funktionen unseres Bewegungsapparates verstanden werden, für den Motokortex im Gehirn, Muskeln, Nerven, Gelenke und deren Zusammenspiel.
Yiquan beurteilt Kampfkunstfähigkeiten nicht nach dem Kriterium Sieg oder Niederlage, denn diese sind rein temporär und nur eine Momentaufnahme. Der Weltmeistertitel im Boxschwergewicht sagt nur etwas über die momentanen Fähigkeiten des Champions aus. Mit zunehmendem Alter wird er seine Fähigkeiten verlieren und ein anderer, jüngerer Boxer seinen Platz einnehmen. In den inneren Kampfkünsten generell nehmen die Fähigkeiten mit zunehmendem Alter nicht ab, im Gegenteil, sie nehmen ständig zu. Es geht um die Prinzipien der Effizienz von Fähigkeiten in allen Lebensbereichen. Yiquan ist, so verstanden, das Studium des Lebens und seiner Prinzipien bzw. Gesetzmäßigkeiten. Für nicht an der Kampfkunst Interessierte bietet es die Freiheit, sich lediglich mit den Gesundheitsaspekten auseinander zu setzen.